Irgendwann schlossen mit dem Kristall- Palast und dem Atrium jedoch die beiden Kinos, Gewerbestrukturen brachen weg und die Besucherfrequenz sank. Im Jahr 1999 waren wir dann fast alleine hier. 60 Prozent der Flächen standen leer und das Quartier war von Vandalismus, Vermüllung und Kriminalität betroffen. Wir standen vor der Entscheidung, ob wir den Laden halten sollen oder in eine andere Stadt ziehen. Aber Letzteres hätte einen kom- pletten Neuanfang bedeutet. Außerdem bin ich nicht der Typ, der weggeht, sondern eher jemand, der sagt: „Okay, da müssen wir uns engagieren und kämpfen!“ Wir haben uns dann mit neun Leuten getroffen und Ideen gesammelt. Zum Beispiel, dass wir eine Bühne im Viertel bräuchten mit Veranstaltungen und Kunst. Das war dann der Punkt, wo wir sagten, dass wir uns nicht traditionell engagieren, sondern dass wir Kunst und Kultur machen wollen. War es leicht, die Menschen hier vor Ort dafür zu begeistern? Um ehrlich zu sein, wurde ich lange sehr kritisch angesehen. Selbst meine Frau hat anfangs gesagt: „Werner, das geht doch überhaupt nicht!“ Damals konnte man nicht mal eben bei Google nachgucken, wie andere das machen. Man musste alles selbst entwickeln. Das Gute daran war, dass wir mit Wolf Köhler einen Bezirksvorsteher hatten, der uns anbot, das nächste Stadt- bezirksfest im Luther-Viertel auszurichten. Und da wir eine Städtepartnerschaft mit Toul haben, kamen wir auf den Namen „La Fête“. Das war im Jahr 2000 der große Beginn, mit dem wir das Martin-Luther- Viertel wieder Stück für Stück nach vorne gebracht haben. „Jede Situation, mag sie noch so schwierig sein, ist immer eine Frage, wie man die eigene Fantasie nutzt, um daraus positive Lösungen zu finden.“ Werner Reumke Heute hat der Förderverein rund 320 Mitglieder. Es gibt dutzende Veranstal- tungen im Jahr und zahlreiche Kreative, von Architekten bis Filmemacher, sind hier im Quartier zu Hause. Gibt es bei dieser positiven Entwicklung etwas, auf das sie besonders stolz sind? Das Gänsehaut-Feeling, mit teilweise Tränen in den Augen, kam sehr oft! Aber es gab jetzt nicht das eine große Aha-Erlebnis. Ich würde sagen, es ist das Gefühl, etwas durch ehrenamtliches Engagement geschaf- fen zu haben, das in dieser Art einzigartig in NRW ist. Die Corona-Pandemie stellte in den letzten zwei Jahren insbesondere für die Veranstaltungs- und Kulturbranche eine immense Herausforderung dar. Wie sind Sie damit umgegangen? Also es ist nicht so, dass wir in die Knie gegangen sind. Das hat aber auch etwas damit zu tun, dass wir immer gepowert haben. Wir haben neue Aktionsformen entwickelt, wo wir mit den Menschen nicht in Berührung kamen. Jede Situation, mag sie noch so schwierig sein, ist immer eine Frage, wie man die eigene Fantasie nutzt, um daraus positive Lösungen zu finden. Zum Beispiel sollte 2020 nach 20 erfolgrei- chen Ausgaben „La Fête“ mit „La Storia“ eigentlich eine neue Veranstaltungsform an den Start gehen. Geplant war, dass wir verbunden mit Essen, Trinken, Kunst und Musik die Hinterhöfe, Balkone, Flach- dächer und Kellerräume im Quartier er- kunden und sie ihre Geschichte erzählen lassen. „La Storia – die kreative Kiste“ war dann die Antwort darauf, dass man sich nicht mehr sehen konnte. Künstlerinnen und Künstler haben über 90 Kisten indivi- duell gestaltet, die wir dann in Leerständen wie dem Kauf hof aufstellen konnten. Mittlerweile ist die Ausstellung durch Kon- takte aus unserem Netzwerk auch in den Niederlanden zu sehen. Auf welche Aktionen können wir uns in nächster Zeit freuen? Wir haben jetzt am 13. Mai die Kultur- nacht, wo wir ein Riesenprogramm auf die Bühnen bringen und eine Radioausstellung eröffnen. Darüber hinaus freue ich mich besonders auf ein tolles Projekt, bei dem unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Märkischen Gymnasium ein Mathe- matik-Kunstwerk entstehen soll. Die Hauptfigur ist Pythagoras, der aus Crotone kom-mt. Eine italienische Stadt, mit der Hamm und ich persönlich seit langer Zeit freundschaftlich verbunden sind und der ich die aktuelle Fotoausstellung „Crotone Dialog“ gewidmet habe. Wissen Sie schon, wie Sie Ihren 75. Geburtstag feiern werden? Tatsächlich werde ich mit meiner Frau in Crotone sein, um weiter an unserer Städtefreundschaft zu arbeiten und mit der Bevölkerung in Kontakt zu kommen. Wir wollen dort Urlaub machen, aber ich habe auch schon gehört, dass ich an meinem Geburtstag geehrt werden soll. I 13