jeden deutschen und französi- schen Politiker geht es primär-und mit Recht um die Sorgen in seiner eigenen Heimat. Dort, und nicht in Europa, kämpft er auch um sein eigenes Mandat. Dabei darf er aber nicht der Ver- suchung erliegen, die Schuld für die Probleme zu Hause dem fer- nen Europa anzulasten. Er muß vielmehr den Mut haben, für die Einsicht einzutreten, daß es zu- meist umgekehrt ist: gerade unse- re heimatlichen Sorgen machen es erforderlich, die Weichen in Eu- ropa richtig zu stellen. Europäische Lösungen mehrheitsfähig machen Deshalb müssen wir im natio- nalen Horizont europäische Lö- sungen mehrheitsfähig machen. Sie, Herr Präsident, haben die- sen Mut immer von neuem bewie- sen. Sie drängen vorwärts. Sie tra- gen maßgeblich dazu bei, konkre- te Vorschläge zu machen, Initiati- ven zu ergreifen und sie durch deutsch-französisches Zusam- menwirken im Interesse Europas voranzutreiben. Sie finden in mei- nem Land dafür ein starkes Echo. Die Bereitschaft zur Zusam- menarbeit beider Regierungen ist spürbar gewachsen. Auch dort, wo die Anfangspunkte weit aus- einander liegen, sind Fortschritte zu verzeichnen. Im Bereich der Luft- und Raum- fahrt wird unsere Zusammenar- beit in der Zahl der Projekte und in der Größenordnung der Mittel nir- gendwo auf der Welt übertroffen. Ihre Beharrlichkeit und Zielstre- bigkeit, Herr Präsident, hat uns vorangebracht. Gedankenaustausch und Zu- sammenarbeit im sicherheitspoli- tischen Bereich sind eng, vertrau- ensvoll und weiter steigerungsfä- hig. Die Bündelung europäischer Interessen im Rahmen der WEU wird die transatlantische Zusam- menarbeit stärken, die sicher- heitspolitische Identität der Euro- päer kräftigen und uns helfen, den notwendigen Dialog mit dem Osten zu führen. In der europäischen Infrastruk- tur, im Umweltschutz, im Ver- kehrswesen, der Energie und den Währungsfragen — Gebiete mit höchst unterschiedlichen Schwierigkeiten — kommen wir einer Verbesserung der Zusam- menarbeit schrittweise näher. , Unsere gemeinsame Strategie im Bereich der Informationstech- nologie führt zu neuen Impulsen. Dies ist von ausschlaggebendem Gewicht. Denn in diesem Teil der Hochtechnologie liegt der Haupt- wettbewerb der Industriezentren der Welt und der Prüfstand ihrer Wettbewerbsfähigkeit. Die Infor- mationstechnologie weist den Weg von der traditionellen Waren- produktion in den Dienstleistungs- bereich. Sie wird den wichtigsten volkswirtschaftlichen Beitrag lie- fern. Erforderlich ist bewußte Zusammenarbeit Amerika ist hier für uns Europä- er ein Beispiel, wie im Laufe der allerletzten Jahre durch neuartige Produktionen und mit hoher Be- weglichkeit der Arbeitnehmer und der Unternehmer Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden konnten. Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit sind auch bei uns vorhanden, aber förde- rungsbedürftig. Erforderlich ist nicht nur eine bewußtere Zusam- menarbeit der Industrien über die Landesgrenzen hinweg. Notwendig ist die Einsicht aller tragenden Kräfte: des Staates, der Wissenschaft, der Bildung und der gewerblichen Wirtschaft, daß die lnnovationskraft unsere gemein- same Aufgabe ist, die wir nur im europäischen Rahmen lösen kön- nen. Die Forschung selbst ist dafür ein Beispiel. Alle europäischen Nobelpreisträger dieses Jahres im Bereich der Naturwissenschaft und Medizin haben als Wissen- schaftler keinen nationalen Wer- degang, sondern einen europäi- schen. Es ist der europäische Weg, der den Rang unserer Lei- stungen in Zukunft bestimmen wird. Alle unsere gemeinsamen An- strengungen im Felde der Tech- nologie und Wirtschaft, der Infra- struktur und Sicherheit gründen auf der menschlichen und geisti- gen Kommunikation unter Franzo- sen und Deutschen. Je stärker sie in allen Ebenen und Schichten ist, bei den Kom- munen, Verbänden und Kirchen, bei Künstlern und Intellektuellen, vor allem aber bei der Jugend, die mit Sorgen und mit Hoffnungen in die Zukunft blickt, um so besser wird man sich über die Werte in unserer Zeit verständigen, um so fester wird das gegenseitige Ver- trauen sein, um so richtiger wer- den wir Deutschen die großen Diskussionen in Ihrem Land ver- stehen und Sie die unsrigen. Erlauben Sie mir, in bezug auf die Stimmung bei uns, über die ich hier manche Fragen gehört habe, noch eine abschließende Anmer- kung. Zwei Elemente kennzeichnen unsere Lage in der Bundesrepu- blik Deutschland. Das eine sind die demokratischen Grundwerte unserer freiheitlichen, rechts- staatlichen Verfassung. Auf die Übereinstimmung in diesen Wer- ten beruht unsere Zugehörigkeit zur Europäischen Gemeinschaft MAI 1987 und zur Atlantischen Partner- schaft. So munter und bunt die Diskussionen bei uns gelegent- lich auch sind, diese unsere fun- damentalen Bindungen sind end- gültig, unwiderruflich und im Den- ken und Handeln unserer Burger fest verankert. Das andere Element sind unse- re besonderen familiären, natio- nalen Bindungen an die Deut- schen im anderen deutschen Staat. Es wäre gegen die mensch- liche Natur, und es würde der Ver- stets vielen Einflüssen ausge- setzt. Unsere Geschichte ist im- mer Teil der europäischen Ge- schichte gewesen und wird es bleiben. Wir haben die Lehren dieser Geschichte gelernt. Ein neutrales Wandern zwischen zwei Welten führt uns nirgendwohin. Das wis- sen wir ganz genau. Es gibt keinen deutschen Sonderweg, der uns abtrennt. Erlauben Sie mir, an die Worte von Paul Claudel bald nach dem Staatspräsident Mitterand und Bundeskanzler Kohl setzten im Jahre 1984 ein vielbeachtetes Zeichen der Versöhnung über den Gräberfel- dern von Verdun. antwortung freier Menschen wi- dersprechen, würden wir sie ver- leugnen. Ich habe noch keinen Franzosen an der Mauer in Berlin gesehen, der nicht spontan ver- standen hätte, worum es uns geht. Wir können und wollen die Men- schen auf der anderen Seite — Deutsche wie wir — nicht im Stich lassen. Sie, wie die Polen, die Tschechen und andere tragen die schwere Last im geteilten Eu- ropa, aber sie sind und bleiben Europäer, wie wir. Verständnis zwischen West und Ost Deshalb suchen wir Verständi- gung zwischen West und Ost. Da- für erstreben wir einen Frieden, der die Trennung im europäischen Maßstab überwinden läßt. Das wollen und können wir nicht allein tun. Unsere Lage in der Mitte des Kontinents hat uns viele Nachbarn beschert und Ende des Zweiten Weltkrieges zu erinnern. Er sagt: . Pourquoi le role de l'Allemagne ne serait-il pas, dans le sens ety- mologique, de consentir? De faire sentir a toutes ces nations diver- ses qui l'enveloppent le besoin qu'elles ont l'une de l'autre L'Al- lemagne, cette immense couliere, cette immense vallee, n'a pas ete faite pour diviser les peuples mais pour les rassembler. Damit ist unsere Aufgabe be- schrieben, eine Aufgabe des Frie- dens in der Verantwortung der Freiheit und in der Verpflichtung zum Recht auf freie Selbstbestim- mung für alle. Claudel hat als nachdenklicher Nachbar und als guter Europäer gesprochen. ' In diesem humanen Geist, Herr Präsident, haben Sie uns hier auf- genommen. Ihm dienen Sie mit Überzeugung und mit Erfolg. Ihm gilt unsere gemeinsame Arbeit, unsere Leidenschaft und unsere Zuversicht." 5