Herr Dr. Pirsich, welchen Stellwert hat das Buch im Zeitalter der Digitalisierung? Das Buch wird einen großen Stellenwert im Leben von Menschen behalten. Ich sage bewusst „von Menschen“ und nicht „der Menschen“, denn wir müssen davon aus- gehen, dass das Buch für einen Teil der Gesellschaft, den „Buchaffinen“, seine Bedeutung bewahren wird. Der „unver- besserliche“ Leser wird dem Buch treu bleiben – vor allem im Hinblick auf zu- sammenhängende Texte. Ein anderer Teil, nennen wir ihn den „Schnipsel-Leser“, wird sein Informationsbedürfnis eher kleinteilig aus unterschiedlichen Quellen beziehen. Davon kann das Buch eine sein. Andere elektronische Angebote werden jedoch vorwiegend genutzt werden. Da- zwischen gibt es alle denkbaren Nuancen. Gibt es in Hinblick auf die Bedeutung des Buches Unterschiede zwischen den jewei- ligen Generationen? Mir persönlich liegen keine aktuellen Untersuchungsergebnisse vor: Aber man könnte das so vermuten. Schaut man aber auf die Nutzung beispielsweise unserer Download-Angebote, so wissen wir, dass auch und gerade meine Generation inten- siv bemüht ist, auf der Höhe der Zeit zu sein: eBook-Reader, Tablets und viele weitere Angebote sind dort in großer Zahl vorhanden und werden aktiv genutzt. So ganz einfach dürft e eine Einschätzung also nicht sein. Wie hat sich die Arbeit der Bibliothek in den vergangen Jahren gewandelt? Wenn ich meine gut 25 Jahre in Hamm betrachte, kann man mit Fug und Recht sagen, dass aus der Anfangszeit nicht viel mehr als Regale, Tische und Stühle geblieben sind. Die Angebote, die Vermitt- lung an die Kunden, die räumliche und zeitliche Ausweitung der Dienstleist- ungen und anderes mehr haben aus einer etwas langweilig anmutenden eine hoch- moderne technologieaffine Einrichtung gemacht: Die Bibliothek stellt heut- zutage andere Anforderungen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um den stark voneinander abweichenden Anforderungen der Kundinnen und Kunden gerecht zu werden. – zumindest ist es unser Bestreben, es so zu sehen und entsprechend zu handeln. Unsere Aufgabe ist es, digitale Angebote in unsere klassischen zu integrieren und aus dem Miteinander eine hybride Bibliothek zu formen. Ein paar Beispiele für eine solche Integration aus unserem Haus sind digitale Nachschlagewerke, die Onleihe (inzwischen seit zehn Jahren) oder ein digi- tales Angebot internationaler Zeitungen und Zeitschriften im Volltext, um die jüngste Errungenschaft zu nennen. Diese Liste wird sich in Zukunft zweifellos noch deutlich verlängern. In welche Richtung wird die weitere Entwicklung gehen: Was muss die Stadtbi- bliothek der Zukunft bieten? Das Schlagwort lautet „dritter Ort“, ein niederschwelliger Treff punkt neben dem eigenen Zuhause oder Arbeitsplatz. Es reicht bei Weitem nicht mehr aus, Medien zu kaufen, sie zu erschließen, in die Regale zu stellen und zu warten, dass die Kunden kommen. Gerade das vergangene Jahr- zehnt hat uns gelehrt, dass Kundinnen und Kunden zwar weniger ausleihen, sich jedoch in annähernd konstanter Anzahl ihre Bibliotheken aneignen: Sie arbeiten hier. Sie lesen und unterhalten sich. Sie spielen oder trinken Kaff ee. Die Bibliothek wird sogar zu einem Treffpunkt für Menschen, die die eigentlichen Angebote nicht nutzen. Sie halten das Haus und sein Ambiente jedoch für einen adäquaten Ort, um sinnvoll Zeit zu verbringen. Welche gesellschaftliche Aufgabe hat die Stadtbibliothek über die klassische Aus- leihe hinaus? Darüber habe ich gerade unter dem Gesichtspunkt „dritter Ort“ etwas gesagt. Ich könnte hier noch weiter aus- führen: Wir sind gerade ein Ort für Menschen, denen andernorts ein ver- gleichbar gutes Raumangebot nicht zur Verfügung steht. Unsere Bemühungen im Rahmen der Interkulturellen Biblio- theksarbeit haben ganz eindeutig diesen Fokus gehabt und werden ihn auch weiterhin behalten – auch in Bezug auf die Menschen, die als Flüchtlinge nach Hamm gekommen sind. Wie groß ist die Konkurrenz für Stadt- bibliotheken durch digitale Angebote? Digitale Angebote sind keine Konkurrenz Was waren die persönlichen Meilensteine? Da gab es viele. Ich versuche an dieser Stelle eine Aufzählung, auch wenn sie nicht voll- ständig sein wird: die Gründung des Freun- deskreises Stadtbücherei Hamm e.V. (fsh) im Jahr 1993 sowie das 100-jährige Jubiläum im Jahr 1995, in dessen Folge ein Umbau der Zentralbibliothek an der Ostenallee in greif- bare Nähe rückte. Aus heutiger Perspektive wissen wir, dass es anders kam. Ein Höhe- punkt war selbstverständlich die Auszeich- nung als „Bibliothek des Jahres“ im Jahr 2005: Es ist der Ritterschlag, den eine Biblio- thek in Deutschland erhalten kann. Hinzu kommen meine Jahre als Funktionär des bibliothekarischen Weltverbandes IFLA (von 2007 bis 2011) – und natürlich der Bezug des Heinrich-von-Kleist-Forums im Jahr 2010, der Umzug in die neue, sehr viel größere Zentralbibliothek. Was soll von Ihrer Arbeit bleiben, was werden die Menschen nach Ihrem Abschied mit Ihnen verbinden? Ich hoff e, dass meine Fähigkeit, in großen Bögen zu denken, mich nicht entmutigen zu lassen und aktiv in Netzwerken zu arbeiten, mich charakterisieren wird. Das impliziert, dass ich sehr gern mit Menschen zusammen bin. Wie sieht Ihre persönliche Zukunft aus? Mein künft iger Lebensmittelpunkt wird, aufgrund gesundheitlicher Einschrän- kungen der vergangenen Jahre, an der Nordsee, in Wilhelmshaven, liegen. Hamm wird für mich damit aber sicher nicht Geschichte sein, sondern weiterhin Teil meines Lebens bleiben: Ich stelle mir eine lange Leine vor, die meinen (dann ehema- ligen) Arbeitsort Hamm mit vielen Freunden und Bekannten mit meinem neuen Wohnort fest miteinander ver- binden. ■ Hammthema / 5