HAMVIAGAZIN nicht mehr der ständischen, die noch in der 20er Jahren vorherr- schend waren. Bezeichnender- weise gab eine weibliche Kandi- datin für die Stadtverordneten- wahl 1929 als Berufsbezeich- nung „Frau Justizrar an. In dieser nachindustriellen Stadt sind Beru- fe und Beschäftigungen wichtiger als der „Stand". Das schließt ein Berufsethos ebenso wie ein Lei- stungsbewußtsein nicht aus. Das A und 0 aber ist, daß überhaupt genügend qualifizierte Beschäfti- gungen vorhanden sind. Zweifel- los kann die städtische Verwal- tung hier eine Steuerungsfunktion ausüben. Bestimmend für den gegen- wärtigen Charakter der Stadt Hamm ist die Neugliederung von 1975, bei der die Zechenstädte Heessen und Bockum-Hövel und industrielle Orte wie Herringen und Pelkum mit ausgesprochen ländlichen Gemeinden und dem Kerngebiet zu einer neuen Groß- stadt zusammengeschlossen wurden. Allerdings sind hier nicht nur Ortschaften, sondern auch unterschiedliche Lebensberei- che zusammengefügt worden, die sich sicherlich nicht im Ge- gensatz von Alt-Hamm und Neu- Hamm erschöpfen, wie ja Ober- haupt eine solche innerstädtische „Geopolitik" höchst problema- tisch wäre. Es gibt wenig moder- ne Städte, denen noch so viele gestalterische Möglichkeiten of- fenstehen wie dem heutigen Hamm mit den vielen kleinen Zentren an der Peripherie. Schließlich fließt auch noch die Lippe durch Hamm wie zu Mur- mellius Zeiten 1507. Anstelle von Murmellius besingt nun Reinhard Mey in seinem Lied „Hauptbahn- hof Hamm" die mitternächtliche Begegnung mit Gastarbeitern, die in ihre Heimatländer zurück- kehren: Am Abend, wenn der Wartesaal im Hauptbahnhof zur Rana wird, wenn sich der Süden jedesmal bis in den Norden verirrt . . Die Stadtlandschaft Hamm übt, zumindest auf den Außenstehen- den, einen eigenartigen Reiz aus. Was nötig ist zum Ausbau einer solchen Stadt ist neben dem Geld vor allem schöpferische und ge- stalterische Phantasie. Ich möchte zum Schluß mit ei- ner kurzen Bemerkung den Bo- gen zu den Anfängen Hamms im Mittelalter schließen: Als damals, wie erwähnt, Hamm-Mitte eine eigene Pfarrei erhielt und nicht mehr von der Pfarrei St. Pankra- tius im benachbarten Mark be- treut wurde, sah der Erzbischof von Köln ein, daß es bei dieser ersten Neugliederung in der Hammer Stadtgeschichte eines Trostpflasters bedürfe. Er verfüg- te: „Verumne in perpetuum pro- cesse temporis transeat in oblivio- nem quod haec Ecclesia Hamme ab eadem Ecclesia de Marcka hactenus dependebat ..." — Da- mit nicht in dem weiteren Verlauf der Geschichte vergessen werde, daß die Kirche in Hamm von der Kirche in Mark abstamme, ordne er an, daß jährlich zum Weih- pachtsfest der Pfarrer von Hamm der Mutterkirche in Mark zwei vierpfündige Kerzen aus gutem Wachs schenke. Sie sollen auf dem Altar der Kirche in Mark entzündet werden und während der gesamten Hauptmesse bren- nen. Niemand dürfe sie entfernen .50 Dieser Brauch geriet an- scheinend doch in Vergessen- heit. Aber dieses Zitat aus dem Jahre 1337 ist aktuell genug, um heute noch daran zu erinnern. Anmerkungen: 33 Vgl. K Koszyk, Die katholische Tage- spresse im westfälischen Ruhrgebiet von 1870 bis 1949, Katholische Akademie Schwerte 1982. 34 Vgl. die Erinnerungen: E. Windhorst, Lebenserfahrungen eines Idealisten, Bonn 1912. 35 E. Raabe, Geschichte van diär Stadt Hamm, 2 Bde. Leipzig 1903, Eickhoff, Aus der Kirchen- und Schulgeschichte Hamms, in: 700 Jahre Stadt Hamm (Westf.), Hamm 1926, D. 156-173. 36 Einen anregenden Einblick in die Ent- stehung der modernen Industriestädte gibt A. Briggs, Victorian Cities (Pelican Books), Harmondsworth 1963: Introduc- tion, S. 11-58. Zur Wirkung der Industria- lisierung auf die Landschaft und zur Ent- stehung der modernen Stadtlandschaft: die beiden Kapitel „Roads, Canals und Railways" und The Landscape of Towns", in: WG. Hoskins, The Making of the English Landscape, Harmondsworth 1970, S. 233-297. Das Buch von Hoskins ist inzwischen eine klassische Darstel- lung der „Geschichte der Landschaft" geworden. 37 Verhandlungen des Reichstags XII. Legislaturperiode, Bd. 223, 117. Sitzung, S. 6024 f. 38 W Ribhegge, Die Systemfunktion der Gemeinden. Zur deutschen Kommunal- geschichte seit 1918, in: R. Frey (Hrsg.), Kommunale Demokratie, Bonn-Bad Go- desberg 1976, S. 28-65. 33 Briggs untersucht die Städte Manche- ster, Leeds, Birmingham, Middlesbrough, Melbourne und London. 40 W. Böhnke, Die NSDAP im Ruhrgebiet 1920-1933, Bon n -Bad-Godesberg 1974, S. 189. 41 Unterlagen über die Kommunalwahlen vom 12.3. 1933 befinden sich im Stadt- archiv Hamm. Der größte Teil der Bestän- de des Stadtarchivs, darunter auch die Ratsprotokolle, wurden 1944 bei einem Bombenangriff vernichtet. 42 Protokoll der Sitzung des Gemeinde- rats vom 28. 11. 1938 (Niederschriften über die Sitzungen der Ratsherren vom Januar 1934 bis August 1944, Stadtar- chiv Hamm); Entschließung des Ober- bürgermeisters vom 12. 12. 1938 (Nie- derschriften über die Entschließungen des Oberbürgermeisters von 1938 bis 1944, Stadtarchiv Hamm). 43 Westfälischer Kurier vom 19.2. 1941. 44 A. Dartmann, Die soziale, wirtschaftli- che und kulturelle Entwicklung der jüdi- schen Gemeinde in Hamm 1327-1943, Hamm (1878); E Hilscher(Hrsg.), Spuren zur „Reichskristallnacht" in Hamm, • Hamm 1988. Verwaltungsbericht der städtischen Bauverwaltung für die Rechnungsjahre 1945-1950: „Der Zusammenbruch im Frühjahr 1945 hinterließ in unserer Stadt Verwüstungen und Zerstörungen größ- ten Ausmaßes. Besonders stark waren die Schäden in der Altstadt, an öffentli- chen Gebäuden und Anlagen, Schulen, Kirchen, dem Schlachthof, der Badever- waltung, den öffentlichen Verkehrsein- richtungen, dem Straßennetz und der Stadtkanalisation. Die Gesamtschäden in der Stadt wurden auf 60 Prozent ge- schätzt." (Stadtarchiv Hamm) 46 Niederschriften Ober die Sitzungen der Stadtvertretung, Stadtarchiv Hamm. 47 Otto Brinkmann, Das Staatliche Gym- nasium in Hamm während der national- sozialistischen Zeit, in: Mitteilungen des Vereins der Freunde des Gymnasiums, Heft 1/2 1951, S. 16. — Zur Situation der Schulen in der NS-Zeit vgl.: G. A. Craig, Deutsche Geschichte 1866-1945, Mün- chen 1980,S. 582f. 48 Vgl.G. A. Craig, Das Ende Preußens. Acht Porträts, München 1985. 49 Vgl. D. Bell, Die nachindustrielle Ge- sellschaft, Hamburg 1979. 50 Wörtlich: „In signum aliqualis subjec- tionis huius et debeti honoris exhibendi ordinamus et inviolabiliter statuimus, ut Curatus sive Pastor Ecclesiae in Hamme quolibet anno in die Nativitatis Domini duos cercos quilibet de quatuor libris, ponderis coloniensis (nach Kölner Ge- wicht), bonae cerae per suum nuncium super altare majus praedictae Ecclesiae parochialis de Marcka faciat praesentari, qui in die Nativitatis Domini et postea festivis diebus subsequentibus in ipso altari durante Majore Missa accendantur et ardeant usque ad eorum consumetio- nem, ab eodem altari nullatenus amoven- di," Steinen (s. A 7), S.661 f. Das Zitat aus der Verfügung des Kölner Erzbischofs mag als ein mittelalterlicher Beitrag ver- standen werden, dem zu Anfang dieses Beitrags von Mitscherlich beklagten Tra- ditionsverlust der Städte entgegen zu wirken. Tradition besteht auch in Symbo- len, und kann oft nur noch darin beste- hen: Denn das Leben einer Stadt geht ja weiter. Mit einem Blick aus der Vogelperspektive auf das heutige Hamm endet der geschichtliche Rückblick (Luftbild freigegeben vom RP Stuttgart 9/81156). 8